Christian Ude

Alles nur Fassade

Von am 3. Juli 2014

Wer die Stadt nur durch die Windschutzscheibe betrachtet, bekommt von allem nur einen Ausschnitt mit, meist den Verkehrsstau vor der eigenen Nase. Was haben wir Radler da für wunderbare Aussichten! Auf den Himmel über uns und auf die Fassaden am Straßenrand, bis ganz oben hin.

Ich habe diese unbegrenzten Aussichten während der Ausflüge mit dem Fahrrad stets genossen, vor allem längs der Isar, wo man einen herrlichen Blick auf die Jugendstil- Fassaden und auf bürgerliche Prachtentfaltung der Gründerzeit hat. Zum Beispiel in der Widenmayerstraße.

Schön ist der Anblick noch immer – aber die Schönheit hat ihren Preis. Wortwörtlich. Je schöner die Fassade, desto irrer der Immobilien-Wahnsinn, der dahinter tobt. In den 80er Jahren habe ich noch viele Mieter anwaltschaftlich vertreten, deren Hausbesitzer allzu heftig hinlangen wollten. In der Rückschau ist es geradezu rührend, um welche Beträge wir damals gestritten haben. Mal um 120, mal um 210 DM im Monat. Aber heute? Da werden einzelne Wohnungen (!) für siebenstellige Beträge verschachert. Für Millionen! Man beachte die Mehrzahl.

Sind wir verrückt geworden? Wieso wir? Was können vernünftige Hausbesitzer oder gar Mieter und Wohnungssuchende dafür, wenn Superreiche aus aller Welt solche Unsummen hinblättern und auch noch einzelne Hausbesitzer finden, die erfreut abkassieren?

Wir reden so oft von der Armutswanderung. Wir sollten mehr über die Wanderungen des Reichtums nachdenken, der irgendwo angehäuft und dann an den schönsten Plätzen der Welt preistreibend in Altbauten gesteckt wird.

Wenn die Reichen immer reicher und die Armen nur zahlreicher werden, sind schöne Fassaden bald nur noch der Hinweis: „Hier kann kein normaler Mensch mehr leben. Hier ist alles – nur noch Fassade!“

Kolumne: Der Rote Radler
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