Christian Ude

Rede Altoberbürgermeister Christian Ude beim Niedersächsischen Städtetag

Von am 9. Oktober 2014

Ja, vielen herzlichen Dank. Ich muss zunächst meiner Rührung Ausdruck geben, ich finde es wirklich unheimlich anständig, dass Sie alle noch da sind. Das ist ja angesichts des ursprünglichen Terminplans kaum zu erwarten gewesen. Die erste Frage, die Uli Mädge mir gestellt hat, kann ich nur mit einem klaren Nein beantworten, er wollte wissen, ob ich mich zwischenzeitlich an den Titel Altoberbürgermeister gewöhnt habe. Was in Bayern übrigens ein Ehrentitel ist, den der Gemeinderat extra beschließen muss. Und das habe ich offen gesagt nie verstanden. Ich habe mal im Kreis kommunaler Kollegen gesagt, dass das eigentlich ein ziemlich doofer Ehrentitel sei, da wäre mir ja Ex-Oberbürgermeister noch lieber. Das hat ein bodenständiger CSU-Kollegen wiederum überhaupt nicht verstanden und hat gesagt, Christian, Deine Ex ist einfach nur weg vom Fenster. Aber Deine Alte hat immer noch das Sagen! So habe ich angefangen, mich mit dem Titel zu versöhnen, ich hab ja sogar hier noch ein bisschen was zu sagen, also vielen Dank für die Einladung! Außerdem ist Bescheidenheit bei so einem schwerfälligen Titel, auch oft missverständlich. Als mir eine Bürgerin sagte bei der Verabschiedung, Alt-Ober-Bürgermeister wäre aber doch ein sehr umständlicher Titel, habe ich ihr gesagt, es reicht völlig, weil ich auch nicht an so langen Titeln hänge, wenn Sie Meister sagen. Und das fand sie dann ein wenig abgehoben.

Also ich lasse es einfach bei der Beschlusslage und komme zur sehr viel schwierigeren Themenfrage. Ohne Städte kein Staat. Ja Du liebe Zeit, um Himmels Willen, ist das denn inzwischen nicht nur noch eine ritualisierte Beschwörungsformel, sagt denn das inzwischen nicht jeder? Tatsächlich kann man den Eindruck haben, dass das inzwischen Gemeingut sei, dass ohne Städte kein Staat zu machen ist, dass die Kommunen keineswegs nur die Schule der Nation ist, wo die kleinen Politiker lernen, wie sie mal Große werden können in Landtag und Bundestag, nein, Kommune ist der Ernstfall der Demokratie, das hat ein Bundespräsident gesagt. Wir sind dem Souverän, nämlich der Bevölkerung, von allen politischen Ebenen am nächsten, das hab ich mal vor dem Städtetag gesagt. Die Städte sind das Gedächtnis der gesamten Bevölkerung und auch die Zukunftswerkstatt, also wie kann man ihre Bedeutung überhaupt noch in Zweifel ziehen? Ja, die Rhetorik hat sich gebessert. Und praktisch gibt es keinen Städtetag, wo nicht die Vertreter von Bundesund Landespolitik ganz brav beteuern, dass die Kommunen aus Bürgersicht das allerwichtigste sind und dass ohne sie kein Staat zu machen ist. Die Rhetorik ist in Ordnung.
Aber in der Praxis stelle ich eine gegenläufige Tendenz fest, nämlich dass die Serie der Angriffe auf die kommunale Selbstverwaltung, auf die Planungshoheit und vor allem auf die kommunale Daseinsvorsorge nicht abreißt, sondern ganz im Gegenteil auf immer höhere Ebenen wandert und dort fortgeführt, sogar verschärft wird. Als ich Journalist war auf der Rathausbank, da gab es noch kommunale Klagen über den goldenen Zügel, also über Zuschussprogramme des Landes, mit denen die Kommunen zu Wohlverhalten gezwungen wurden und Klagen über die Rechtsaufsicht, die sich allzu obrigkeitlich einmischt.
Später kamen die Attacken von der Bundesebene, da wurde plötzlich die Gewerbesteuer, unsere wichtigste Finanzquelle, in Zweifel gezogen und mancher versuchte, sie uns aus der Hand zu winden. Und vor allem wurden uns immer mehr Aufgaben aufgebürdet, ohne dass wir gleichzeitig die entsprechenden Mittel bekommen hätten, was zu Überlastung und finanzieller Auszehrung geführt hat. Da gab es Dank des Städtetages erfolgreiche Abwehr, das Konnexitätsprinzip steht endlich in allen Länderverfassungen, obwohl die Phantasie der höheren Ebenen und ihrer Ministerialbürokratie, es in der Praxis zu umgehen, immer noch Respekt einflößend ist. Aber in der Verfassung steht es schon mal. Heute haben wir es mit anderen Attacken zu tun, die noch höheren Orts geritten werden. Die Europäische Union hat, und das ist jetzt kein vulgärer antieuropäischer Kurs, sondern einfach eine nüchterne Bilanz. Die europäische Ebene hat in den vergangenen Jahren einen Versuch nach dem anderen gestartet, um auf Wunsch vor allem großer Konzerne und Wirtschaftsverbände die kommunale Daseinsvorsorge infrage zu stellen und auszuhöhlen. Mal waren die Nahverkehrsunternehmen ins Visier geraten, denen man Buslinien und sogar Trambahnlinien entwinden wollte, dann kamen die Sparkassen unter Feuer, weil die privaten Geschäftsbanken gerne sich deren Filialnetz und vor allem Kundenstämme und Umsätze unter den Nagel gerissen hätten, dann hieß es sogar, dass Bildungseinrichtungen, Kulturangebote und Kliniken einer Marktöffnung zugänglich gemacht werden müssten und in Einzelfällen wurden sogar Wohnungsunternehmen in kommunaler Hand oder auch in staatlicher infrage gestellt. Und kaum ist eine Abwehrschlacht geschlagen worden, etwa die Verteidigung des öffentlichen Nahverkehrs und des Rechts der Kommunen, das Verkehrswesen auch selber durchzuführen, da kam schon die nächste Attacke auf die Sparkassen und dann auf die Wohnungsbaugesellschaften und im vergangenen Jahr sogar wieder auf die kommunale Wasserwirtschaft, obwohl da etwa grob geschätzt 98 % der deutschen Bevölkerung auf unserer Seite sind. Nicht einmal das ist eine ausreichende Warnung für Brüssel, die Finger aus dem Spiegel zu lassen! Ich finde das extrem ärgerlich, weil man sich schon fragt, ob die Institutionen der Europäischen Union alle anderen
Aufgaben von der Regulierung der Finanzmärkte bis zu einer humanitären Flüchtlingspolitik schon gelöst haben, dass sie nur noch kommunale Nüsse knacken müssen. Ich kann diese Einschätzung beim besten Willen nicht begreifen. Und man fragt sich, ob die Europäische Union nicht bereits genug Akzeptanzprobleme hat, um die Verärgerung der Bevölkerung in den Städten zu vermeiden, was ja wohl in ihrem ureigensten eigenen Interesse liegen müsste.

Aber jetzt ist inzwischen eine noch höhere Ebene erreicht worden, wo wir Angriffe zu gewärtigen haben, ich meine die Freihandelsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und Kanada, wo sie abgeschlossen sind, und den USA, wo sie vor dem Abschluss stehen. Da werden ja schon wieder (ich habe das als Städtetagspräsident Anfang 2012 angesprochen, als es noch kein Medium in Deutschland interessiert hat) kommunale Unternehmen und kommunale Daseinsvorsorge infrage gestellt und gefährdet, ohne dass man auch nur in irgendeiner Stadt Deutschlands der Öffentlichkeit reinen Wein eingeschenkt hätte. Die Verhandlungen wurden anfangs vertraulich geführt, bis erfreuliche Indiskretionen das beendet haben. Und nach wie vor wissen wir nicht, was herauskommt. Deswegen sage ich nach wie vor, kommunale Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge ist eine gefahrgeneigte Arbeit, wie die Juristen sagen, die Gefahren kommen nur von immer weiter oben her, nicht mehr die Kommunalminister der Länder sind das Problem, das sind ja oft Verbündete, nicht nur in Niedersachsen, aber hier besonders, wie ich gehört habe. Nicht die nationale Politik ist das Problem, da sind in Zeiten der Großen Koalition gar keine Angriffe auf die Gewerbesteuer und keine neuen Initiativen für die Marktöffnung zu erwarten. Inzwischen heißen die Herkunftsorte von Risiken für die kommunale Daseinsvorsorge Europa oder sogar internationale Verhandlungen und deswegen ist größte Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und sogar Misstrauen angebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Natürlich sind wir als Vertreter der Städte, die eine besonders exportorientierte Wirtschaft aufweisen, für möglichst viel Freihandel. Um diese Frage geht es auch gar nicht. Und dass Unternehmen ihre Investitionen vor Enteignung oder plötzlichen Überraschungsangriffen der Gesetzgebung geschützt haben wollen, ist auch nachvollziehbar. Nein, es geht um die Frage, ob in undurchsichtigen, intransparenten Vertragsklauseln auswärtigen Konzernen Rechtspositionen verschafft werden, mit denen sie plötzlich eine jahrzehntelange bewährte Praxis kommunaler Daseinsvorsorge in Zweifel ziehen können und vor Schiedsgerichten, die nicht öffentlich tagen, Milliardenforderungen auftischen können, die dann der nationalen Politik totale Grenzen ziehen. Es ist beruhigend, wie sich die offiziellen Stimmen
der Politik gegen ein undurchsichtigtes Schiedsgerichtsbarkeitswesen geäußert haben und für die kommunale Daseinsvorsorge einsetzten. Entscheidend ist aber eine andere Frage: Entscheidend ist, ob diese erfreulichen Stimmen sich bis zur Endfassung des Vertrages durchgesetzt haben werden und wie die Politik sich verhält, wenn das nicht der Fall sein sollte. Das ist die Stunde der Wahrheit und ich kann den Städtetag nur ermuntern und wachrütteln, sich auf die Stunde der Wahrheit vorzubereiten. Wenn wir uns durchgesetzt haben bis zu diesem Zeitpunkt, es ist ein grandioser Erfolg und der Freihandel wird die exportorientierten Unternehmen aus den städtischen Bereichen auch noch beflügeln. Aber wenn wir uns nicht durchgesetzt haben, sondern Gefahren für die kommunale Daseinsvorsorge im Vertragswerk schlummern und dann plötzlich durch Schiedsgerichtsurteile politische Realität werden können, dann müssen wir die kommunalen Interessen ganz massiv vertreten, das wird dann einige Monate lang nach meiner Prognose das zentrale Thema der Kommunen sein. Nicht von jetzt auf gleich, sondern für die langfristigen Perspektiven unserer städtischen Unternehmen. Dabei geht es nicht nur um unsere Rolle als Arbeitgeber oder Betriebseigentümer, sondern es geht um die Frage, ob wir die Erwartungen unserer Bürgerschaft an die kommunale Daseinsvorsorge befriedigend erfüllen können oder ob das Rathaus in Zukunft nur noch die Reklamationsabteilung
auswärtiger Konzerne ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Städte kein Staat, ohne Städte ist kein Staat zu machen. Das ist eine Binsenweisheit, weil zwar noch nicht in jedem Bundesland, Herr Landtagspräsident, aber in immer mehr Bundesländern die Mehrheit in den Städten lebt. Es ist sogar auf unserem ganzen Globus so, dass seit einigen Jahren die Mehrheit der Menschheit in Städten lebt und in der Europäischen Union sind es nach eigener Aussage sogar 80 %, die in urbanen Verdichtungsräumen leben. Dass es ohne die nicht geht, versteht sich von selbst. Aber der Spruch „Ohne Städte ist kein Staat zu machen“ meint ja mehr, dass die Stimme der Städte ernster genommen und öfter beherzigt werden sollte, weil es sonst schiefgehen könnte. Ich will auch um das Selbstbewusstsein der kommunalen Verbände zu stärken zehn Stichworte nennen, wo tatsächlich der Deutsche Bundestag gut beraten gewesen wäre, sich schneller den Empfehlungen und Beschlüssen des Städtetags und der praktizierten Politik der Städte anzuschließen, statt dies viele Jahre und manchmal sogar Jahrzehnte hinauszuzögern.

Erstes Stichwort, wo es mich besonders ärgert, dass manche Bundespolitikerin den Eindruck erwecken konnte, sie müsste uns erwecken und zur Einsicht bringen: Kinderbetreuung und Ganztagsschule sind doch in zahlreichen deutschen Städten schon Jahre oder jahrzehntelang praktiziert und ausgebaut worden, ehe der Bund überhaupt erkannt hat,
dass das auch für ihn ein mögliches Betätigungsfeld wäre. Wir sollten deshalb diesen völlig falschen Eindruck, der Bund habe uns bei den Ohren gegriffen und den Bürgermeistern das Gebot der Stunde erläutert, nicht im Raum stehen lassen, wir sollten daran erinnern, wann die Kommunen Kinderbetreuung und Ganztagsschule als Gebot der Stunde erkannt haben und wann und wie viele Kinderbetreuungsplätze und Nachmittagsangebote wir schon geschaffen haben, ehe der Bund hechelnd hinter der Entwicklung hergelaufen ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim zweiten Thema ist es ja fast bis zum heutigen Tag so. Den Wohnungsmangel nicht in allen Kommunen, aber in vielen Städten haben wir als deutscher Städtetag, als betroffene Städte immer schon artikuliert. Wir haben niemals aus dem statistischen Ausgeglichenheitszustand des Wohnungsmarktes geschlussfolgert, dass es keinen Wohnungsbau oder gar keine neuen Sozialwohnungen mehr brauche. Wir haben immer darauf hingewiesen, wie groß der Mangel ist und dass öffentlich geförderter Wohnungsbau zumindest in Städten mit erhöhtem Wohnungsbedarf erforderlich ist. Der Bund hat abermals im vergangenen Jahr dies viel zu spät eingeräumt und Konsequenzen gezogen, jetzt sogar die Mietenbremse. Ich darf daran erinnern: es war der Deutsche Städtetag in Frankfurt, wo die Kanzlerin erstmals, und zwar auf unser Drängen hin, eingeräumt hat, eine wirksame Mietenbremse wäre gar keine schlechte Idee, sondern müsse ernsthaft geprüft werden. Da hatten wir dieses Lied in München und anderen Städten mit Wohnungsbedarf schon sage und schreibe 25 Jahre lang gesungen! Was wäre der Mieterschaft alles erspart geblieben, wenn der Bund schneller reagiert hätte!

Das dritte Thema gilt für alle Kommunen, nämlich der Vorrang des öffentlichen Personennahverkehrs. Sie können Resolutionen des Deutschen Städtetags bis in die 70er Jahre, 60er Jahre zurückverfolgen, wo wir vorgetragen haben, dass mit dem Autoverkehr allein die Mobilitätsbedürfnisse der Verdichtungsräume nicht bewältigt werden können, dass auf die Schiene und den ÖPNV zu setzen sei. Das ist für die Zukunft nicht einmal jetzt hinreichend gesichert, im Gegenteil, uns stehen beim ÖPNV Finanzierungsprobleme in den kommenden Jahren ins Haus, dass einem Hören und Sehen vergeht. Denn zu den steigenden Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung kommt ein explodierender Sanierungsbedarf der bereits fertigen Fahrzeugparks und der vorhandenen Bauwerke noch hinzu und der Finanzbedarf haut fast jede noch so gesunde Stadt um. Auch der ÖPNV ist also ein Beispiel, dass die Städte rechtzeitig gewarnt und rechtzeitig die richtigen Forderungen gezogen haben.
Beispiel vier muss ich jetzt nicht mehr erläutern, obwohl es früher ein Thema für abendfüllende Debatten war. Die Städte haben nachweislich nicht alle, aber in großem Ausmaß, schon vor 10, 15, 20 Jahren mit der Energiewende begonnen und auf erneuerbare Energien gesetzt, auf Solarenergie, auf Wasserkraft, auf Windenergie und deswegen gilt auch hier: Der Bundesrepublik wäre manche Fehlentscheidung und Fehlinvestition erspart geblieben, wenn sie stärker auf die Kommunen gehört hätte, statt sich viel zu lange als Atomstaat zu gebärden und erst nach Fukushima die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Ich denke, auch das gehört zum kommunalen Selbstverständnis dazu!

Das fünfte Thema habe ich schon anklingen lassen bei den Angriffen von der europäischen Ebene. Die Kommunen mit ihrer Praxisnähe und der Deutsche Städtetag mit der Erfahrung seiner Mitglieder können für sich in Anspruch nehmen, in den mindestens zwei neoliberal wirtschaftsradikal geprägten Jahrzehnten der Privatisierung und Deregulierung nicht mit den Wölfen geheult zu haben, sondern bewährte Daseinsvorsorge verteidigt und öffentliche Unternehmen erfolgreich fortgesetzt zu haben. Sogar in die Regierungserklärung einer Landesregierung war die Überschrift eingeflossen: „Privat vor Staat“. Das war ein Glaubensdogma. Daran durfte nicht gerüttelt werden und in Wirtschaftsredaktionen der deutschen Presse und an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Deutschlands schon gleich überhaupt nicht. Der Städtetag war fast die einzige Stimme neben Gewerkschaften, die nicht alles dem Dogma der Privatisierung opfern wollten, die vielmehr gesagt hat, dass Gemeinwohlorientierung in der Wohnungswirtschaft, im Sparkassenwesen, im öffentlichen Klinikwesen beibehalten werden muss. Auch hier wäre es der staatlichen Ebene gut angestanden, die kommunale Stimme etwas ernster zu nehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die drei Modebegriffe Partizipation, Integration und Kooperation sind von den Kommunen früher als von der staatlichen Ebene erkannt und gepflegt worden. Bürgerbeteiligung ist für uns ein tägliches Geschäft und Integration, weil die Menschen nun einmal in unseren Städten wohnen, leben, arbeiten und Kinder zur Schule schicken, ist über alle Parteigrenzen hinweg selbstverständlich. Und Kooperation haben wir nicht alle Kommunen, die Landkreise kann man da nicht einbeziehen, aber der Städtetag immer schon gefordert. Hier habe ich mein groteskestes Erlebnis mit der Bundesebene gehabt, weil ich in diesen Jahren gerade Städtetagspräsident war. Wir haben darauf hingewiesen, dass große gesamtgesellschaftliche Aufgaben nur noch von allen staatlichen Ebenen gemeinsam bewältigt werden können, zum Beispiel die Kinderbetreuung, zum Beispiel die Integration und heute würde man noch hinzufügen: die Inklusion.
Das war unser Credo: die drei Ebenen des Staates müssen zusammenwirken, um wenigstens gemeinsam überragende Herausforderungen meistern zu können. Was hat hingegen der Verfassungsgeber beschlossen, ich füge demütig hinzu: auf bayerischen Druck? Ein Kooperationsverbot. Ein Verbot des Zusammenwirkens der verschiedenen staatlichen Ebenen. Warum? Weil die Bayern gesagt haben, lieber nehmen wir gar kein Geld als dass wir uns zwingen lassen, es für Kinderbetreuung und Nachmittagsangebote ausgeben zu müssen. Das war der Grund, warum die Regierung Stoiber gesagt hat, so was darf nie wieder passieren, dass wir Bundesgeld bekommen, um plötzlich Kinderbetreuung unter drei Jahren und Nachmittagsangebote finanzieren zu müssen. Und was ist nach dem Kooperationsverbot geschehen? Die Pointe kommt ja erst. Nach dem Kooperationsverbot haben mich Minister der Bundesregierung im Wochenrhythmus nach Berlin eingeladen, um im kleinen Kreis ganz vertraulich zu beraten, wie dieses unsinnige Verbot umgangen werden könnte. Ursula von der Leyen wollte verdienstvollerweise Krippen der Kommunen fördern und durfte es nicht. Wolfgang Tiefensee vorbildliche Bussysteme, und durfte es nicht. Franz Müntefering die energetische Sanierung von öffentlichen Bauten, und durfte es nicht. Das Kooperationsverbot gehört nach wie vor zu den schlimmsten Schildbürgerstreichen des deutschen Verfassungsgebers und ist ein weiteres Beispiel, dass die Bundespolitik gut beraten wäre, wenn sie früher auf den Deutschen Städtetag hört.

Und meine letzten beiden Beispiele kann ich ganz kurz machen, weil sie inzwischen Gemeingut sind. Der Städtetag hat in Zeiten der Deregulierungswut, die ja auch schon Weltanschauungscharakter, Religionsersatzcharakter angenommen hat, unmissverständlich aus der kommunalen Alltagspraxis heraus gesagt, wir brauchen in einer immer komplexeren Welt auch Regelwerke, damit das alles funktioniert. Aber nein, Deregulierung war das Gebot bei der Bauordnung und sonst wo und hinterher hat man geklagt, was jetzt plötzlich alles ins Kraut schießt und welcher Wildwuchs entsteht. Ich glaube, dass die Deregulierungswelle genauso wie die Privatisierungswelle nichts anderes als ein historischer Irrtum gewesen ist und der Städtetag kann froh sein, dem nicht aufgesessen, nicht auf den Leim gegangen zu sein.

Und das letzte Stichwort, Kolleginnen und Kollegen: auch heute, anno 2014, gehört der Städtetag zu den ganz wenigen Stimmen, die ehrlich sagen, dass die öffentlichen Aufgaben, die wir vorfinden, die beim Zusammenbruch der Verkehrsinfrastruktur mittlerweile alle politischen Lager beuteln, nach mehr Staatseinnahmen verlangen. Aber das heißt dann halt auch, dass man nicht gleichzeitig Steuersenkungen als ewigen Wahlkampfknüller im
Schaufenster behalten darf. Da ich wie alle Menschen ungern Steuern zahle, habe ich jedes Verständnis für den Wunsch, die Last möge abnehmen. Aber solange keiner sagen kann, welche öffentlichen Aufgaben entfallen oder
gekürzt werden sollen, ist es doch reine Irreführung, wenn wir den steigenden Sanierungsbedarf, den steigenden Investitionsbedarf bei jeder Gelegenheit beschwören, aber gleichzeitig so tun, als ob wir gerade an einer noch nie dagewesenen Steuerentlastung arbeiten dürften. Unsere Debatte zur Gewerbesteuer war ehrlicherI Wir haben gesagt, dass wir die Finanzquelle brauchen, um kommunale Aufgaben zu erfüllen. Dass wir an der Aufgabenerfüllung nicht rütteln lassen und dass jeder, der die Gewerbesteuer abschaffen oder demontieren will, ehrlich sagen muss, woher das Geld sonst kommen sollte. Ich denke, das muss zum Maßstab für jede finanzpolitische Debatte der Zukunft werden: wer Wohltaten verheißt, und seien es Steuerentlastungen, muss sagen, wo das Geld stattdessen herkommen soll oder wo er es in Zukunft nicht mehr ausgeben möchte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke also, dass der Zentralsatz, ohne Städte kann man keinen Staat machen, nicht nur mit grundsätzlich philosophischen Aussagen über die Menschheitsgeschichte, Athen war vor Griechenland da oder so, untermauert werden kann, sondern auch mit zehn sehr prägnanten und existenziellen Punkten der Bundespolitik der letzten zwei, drei Jahrzehnte.

Ich habe es deshalb sehr naheliegend und erfreulich gefunden, dass sich vor drei Jahren gleich drei Oberbürgermeister von Landeshauptstädten aufgerufen gefühlt haben, vom Rathaus in die Staatskanzlei umzuziehen. Wie Sie alle in Niedersachsen wissen, ist dieses Vorhaben auch sehr erfolgreich gewesen, zu zwei Dritteln, und ich erwarte vom Niedersächsischen Städtetag so viel Anstand, so viel Taktgefühl und so viel Gastfreundschaft, dass er nicht weiter nach dem letzten Drittel fragt. Belassen wir es einfach bei der zeitlosen Feststellung, dass seit der Gründung der Stadt München durch Heinrich den Löwen immer wieder mal die Niedersachsen den Bayern sehr weit voraus waren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht, dass wir wegen der zahlreichen Beispiele, in denen wir der Bundespolitik rechtzeitig die richtigen Ratschläge gegeben hatten, in Selbstzufriedenheit baden. Deswegen zum Schluss drei kritische Themen, wo ich meine, dass die Städte auch an sich selbst arbeiten müssen, statt nur auf richtigen Beschlusslagen herumzureiten. Erstens sollten wir die kommunale Familie einmal näher anschauen. Wenn ich diese Versammlung als Spiegelbild der kommunalen Familie sehe,
würde ich sagen, da gibt es mit Herbert Schmalstieg und mir zwei Opas. Im Übrigen schaut es aber aus wie ein Vatertagsausflug. Abgesehen von den wenigen jetzt applaudierenden Frauen sind alle anderen zu Hause geblieben und die Jugend ist auch kaum bis gar nicht vertreten. Ich will damit nicht einer Verjüngung, gar einem Jugendwahn huldigen, das liegt mir schon aus Altersgründen völlig fern. Ich will nur darauf hinweisen: wir singen täglich das Lied, dass unsere Städte immer bunter werden. Irgendwann sollten unsere Stadträte dem folgen. Dass die weibliche Mehrheit der Bevölkerung hier nur sehr minoritär vertreten ist und Mitbürger mit Migrationshintergrund fast gar nicht und junge Leute auch kaum, sollte uns beunruhigen. Ich nenne ein ganz konkretes Beispiel. Wenn ich auf dem Verband kommunaler Unternehmen bin oder auf dem Sparkassentag, also dort, wo in der kommunalen Familie richtig Geld verdient wird, von dem Oberbürgermeister nicht einmal zu träumen wagen, dann sehe ich fast überhaupt keine Frau. Und gleichzeitig debattieren wir alle in unseren Parteien, wie wir der Wirtschaft 40 oder noch mehr Quotenprozent abverlangen für Frauen in Führungspositionen. Wir sollten da mit gutem Beispiel vorangehen, das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Also bitte keine Selbstzufriedenheit der kommunalen Familie, es reicht schon, wenn wir nur das zustande bringen, was wir der deutschen Wirtschaft gesetzlich abverlangen wollen.

Zweites Thema Wahlbeteiligung, und das hat sich in den letzten Monaten noch mal dramatisch zugespitzt. Wir sind es inzwischen gewohnt, in Kommunen Wahlbeteiligungen weit unter 50 % hinzunehmen. Bei Stichwahlen gab es schon unter 30 % Wahlbeteiligung. Das heißt, dass man Stadtoberhaupt werden kann, wenn 16 %, also nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte, einen gewählt hat. Tendenz weiter fallend. Ich glaube, dass so ein Thema uns umtreiben muss, wenn die Mehrheit der Bevölkerung, ja eine wachsende Mehrheit, bald eine erdrückende Mehrheit, sich für alles, was wir treiben und tun, nicht mehr interessiert, da ist dann auch wurscht, ob sie dagegen sind oder nur gleichgültig, das Desinteresse muss uns alarmieren! Besonders befremdlich, aber auch nachdenkenswert finde ich es, wenn dies in Städten und Ländern geschieht, in denen man vor einem Vierteljahrhundert mit Montagsdemonstrationen noch die eigene Freiheit aufs Spiel gesetzt hat, um das Wahlrecht zu erstreiten. Und jetzt nimmt eine erdrückende Mehrheit an Wahlen überhaupt nicht mehr teil. Ich habe kein Patentrezept, ich will nur aus aktuellem Anlass sagen, was ich nicht für ein Patentrezept halte. Nämlich die immer weitergehende Erleichterung und Verbreiterung und Systematisierung von Bürgerbeteiligung. Ich bin, liebe Kolleginnen und Kollegen, und kann das als Exoder Altbürgermeister ohne jede eigene Aktie im Spiel ganz unbefangen sagen, natürlich ein Befürworter von Bürgerbeteiligung. Schon
um das Know-how der Bürgerschaft abzuschöpfen und um die Identifizierung von Aktivbürgern mit ihrer Kommune zu fördern. Ja, ich bin dafür. Aber ich glaube nicht an die Heilslehre, wir müssten die Bürgerbeteiligung immer noch ausweiten mit noch mehr Verfahren, mit noch mehr Budgetmitteln perfektionieren und dann haben wir glücklich Bürger, die auch gerne wählen gehen. Vor diesem Trugschluss will ich warnen. Ich sage, es ist im Gegenteil nach meiner Beobachtung so, dass die Bürger immer entspannter bei der Wahl zu Hause bleiben, wenn man ihnen vorher eingebläut hat: wenn Euch ein Thema mal wirklich interessiert, könnt ihr es ja in Eurer Umgebung selber entscheiden. Das ist ja ein Beitrag zur Entpolitisierung. Wenn ich das Interesse am Gemeinwesen einschläfere, indem ich sage, wenn es um Deine Bushaltestelle, um Deine Kinderkrippe, um Deine Verkehrssituation geht, dann kannst Du es ja im Einzelfall selber regeln, alles andere kann Dir wurscht sein. So denken aber viele Bürger, ich kenne persönlich Leute, die an Workshops fast schon berufsmäßig teilnehmen, aber nicht mehr wählen gehen. Denn was sie bestimmen wollen, können sie ja an sich ziehen. Aber mehr noch, ich halte es für eine Illusion, wenn wir Bürgern einbläuen, sie könnten bei Partizipationsverfahren alles entscheiden, ohne Rücksicht auf andere Interessen, die es in der Stadtgesellschaft ja auch gibt und ohne Rücksicht auf die Kosten, die durch Bürgerwünsche vor Ort entstehen. Es ist ja in Wahrheit nicht so, dass bei jeder Bürgerbeteiligung auch wirklich realisiert wird, was man vor Ort wünscht. Wenn die Wünsche dann nicht in Erfüllung gehen, ist die Frustration nur noch größer. Also bitte auch hier Skepsis vor Modeerscheinungen. Ich glaube, dass seit Stuttgart 21 die Bürgerbeteiligung als Patentrezept für alle Probleme genau so eine fragwürdige Patentlösung ist, wie es die Deregulierung oder Privatisierung von anderer Seite auch mal gewesen ist.

Und meine letzte Bemerkung, was neue Herausforderungen und Aufgaben angeht: Wir müssen genauer schauen, was von außen auf uns zukommt. Ich hatte auch als Fernsehzuschauer den Eindruck, dass durch die notwendigen Hinweise, was Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien bedeuten kann, eine Verengung der Wahrnehmung ausgelöst wurde, als ob nur Armut zuwandern würde. Das ist schon diskriminierend für unendlich viele Fachkräfte, die mit höchster Kompetenz hierherkommen und im Berufsleben dringend gebraucht werden, es ist eine verzerrte Wahrnehmung. Aber viel wichtiger ist folgender Hinweis: Nicht nur Armut wandert zu, sondern oftmals ist für die Städte und ihr soziales Gleichgewicht die Reichtumszuwanderung viel problematischer. Und das ist eine globale Entwicklung, dass sich Arm und Reich auseinander entwickeln. Auch in früheren Ländern des Ostblocks, in einer Art und Weise, die der traditionelle Kapitalismus nie zustande
gebracht hat. Milliardäre, Multimillionäre wollen Kapital im sicheren, sozial ausgeglichen Deutschland anlegen, hier Immobilienbesitz erwerben. So jagen sie hier die Preise in attraktiven Städten in die Höhe und plötzlich erleben wir im Straßenbild eine Spaltung der Stadtgesellschaft, die mit unseren historisch gewachsenen Erfahrungen, aber auch mit der Politik des sozialen Ausgleichs in den letzten Jahrzehnten überhaupt nicht vereinbar ist.
Provozierender Reichtum, und das nicht nur in der Münchner Maximilianstraße, sondern genauso in schicken Vierteln von Frankfurt und Stuttgart, und neuerdings zunehmend in Berlin und gleichzeitig immer mehr Bettler. Auch wenn es bandenmäßig organisiert wird, sind die Leute, die da betteln müssen, schon arm. Und plötzlich ist die solidarische Stadt durch ihr eigenes Antlitz, durch die dort zu sehenden, im Stadtbild sichtbaren Zustände widerlegt. Die Reichen werden immer reicher und die Armut immer krasser und die Gegensätze immer provozierender, obwohl es, behaupte ich, mit den Entwicklungen unserer Städte gar nichts zu tun hat. Der Reichtum ist anderswo entstanden, wenn plötzlich Russen Villengegenden aufkaufen, inzwischen immer mehr Chinesen oder Südamerikaner und wenn immer mehr Arme betteln gehen, die in Kleinbussen aus Rumänien und Bulgarien angeschleppt werden. Ich glaube, dass die Bürgermeister, wenn sie nicht eines Tages zum Sündenbock dieser Entwicklung werden wollen, solche internationalen Phänomene benennen und erklären müssen und eine Politik des sozialen Ausgleichs auch zum Thema der internationalen Politik machen müssen. Wir werden auch von einer sozialen Spaltung gefährdet, die importiert wird. Und ich nenne ausdrücklich beide Seiten, um das Unwohlsein der Bevölkerung, aber auch die Zuspitzung der Situation zu erklären. Beim Thema Flüchtlinge als Zuwanderung bedanke ich mich bei Boris Pistorius für alles, was er hier gesagt hat, denn das erspart mir die Schlussüberlegung, dass die Kommunen bei aller Sensibilität für Pflichten und Aufgaben wirklich nicht zur Ursache internationaler Flüchtlingsbewegungen erklärt werden können. Darauf zu reagieren, und zwar finanziell, ist eine staatliche Aufgabe. Der Staat handelt nicht kommunalfreundlich, wenn er sagt, diese großartige humanitäre Aufgabe überlassen wir unseren Kommunen, wir selber halten uns an die Schuldenbremse. Nein, internationale Phänomene sind eine Herausforderung der staatlichen Organisationen. Wir müssen die Arbeit vor Ort tun, aber bezahlen, denke ich, muss es der Staat. Ohne den Staat sind keine guten Städte zu erhalten. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Kolumne: Reden
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