Christian Ude

Eine Zeitreise zu Väterchen Timofej

Von am 24. Juli 2014

Ich liebe Zeitreisen. Vor allem mit dem Fahrrad. Nur eine kurze Strecke fahren – und schon kann man eintauchen in Abenteuer der Kindheit, in längst vergangene Zeiten. Zum Beispiel dort, wo einmal das Oberwiesenfeld war. Den ersten Ausflug dorthin habe ich vor 60 Jahren unternommen, mit einem Tretroller aus Leichtmetall und mit Ballonreifen (und nicht mehr aus Holz und mit Hartgummireifen wie zuvor, ein schreckliches Gerumpel). Neben dem Schuttberg war das gesamte Gelände rot – vor lauter zerbrochenen Ziegelsteinen und ihrem Staub

Aber mittendrin gab es einen eingezäunten Garten, eine grüne Insel im roten Meer, die Einsiedelei des grimmigen und vollbärtigen „Russen“, den wir Kinder fürchteten wie den Leibhaftigen. Mit pochenden Herzen kletterten wir über den Zaun, um den Klassenkameraden tollkühnen Mut zu beweisen. Später kamen wir aber mit der Schulklasse in die Idylle, um die Kapelle mit ihren russisch-orthodoxen Zwiebeltürmchen aus alten Ölfässern und den mit Silberpapier ausstaffierten Innenraum zu bestaunen. Da machte „Väterchen Timofej“ einen ganz friedlichen Eindruck – und später verehrten wir ihn als „ersten Münchner Gammler“, im Jahrzehnt der Blumenkinder dann als „ersten Hippie im Lande“, noch später als „ersten Hausbesetzer Bayerns“ – schließlich hatte er das Areal völlig illegal in Beschlag genommen und zwischendrin in den 70er Jahren als „ersten Olympiasieger“ der Spiele 72, denn er hatte mit Hilfe kräftiger Bürgerproteste die Olympia-Planungen über den Haufen geworfen, damit sein Kirchlein erhalten bleibt.

Als Bürgermeister habe ich ihm jedes Jahr zum Geburtstag gratuliert und dabei manchen Wodka im winzigen Schwarzbau getrunken. Besonders angetan war er von meiner Frau. Bis er eines Tages ihre roten Fingernägel entdeckte und sie anherrschte: „Warum machst Du das? Hast schon Mann!“

Beim letzten Besuch im Altenheim hat er am Wodka nur noch genippt – und starb bald danach. Aber nicht sein Garten Eden! Ganz am Ende meiner Amtszeit konnte er dauerhaft gesichert werden – durch die Legalisierung des Schwarzbaus. Gegenwärtig wird diese Insel der Ruhe täglich von Zehntausenden Besuchern buchstäblich umflutet – doch kaum einer weiß, welche Idylle hier auf dem Festival-Gelände immer ihrePforten offen hält. Der winzige Eingang zu dem wunderschönen Ausflugsziel für eine Zeitreise befindet sich direkt neben der Pizza-Hütte. Aber bitte: Nicht die Ruhe stören!

Kolumne: Der Rote Radler
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