Christian Ude

Beitrag zur Festschrift „200 Jahre IKG München“

Von am 1. Juli 2015

Schutzpatron, Mandant, Verbündete

Mein Verhältnis zu den Repräsentanten der Münchner Kultusgemeinde

Seit meiner Schulzeit habe ich ein enges, vertrauensvolles und fruchtbares Verhältnis zu den obersten Repräsentanten der Israelitischen Kultusgemeinde in München – und dieses Verhältnis kann man getrost eigentümlich und unbefangen nennen. Vielleicht war es deshalb so prägend und beglückend für mich

Alles fing damit an, dass ich als Gymnasiast eine Schülerzeitung am Schwabinger Oskar-von-Miller-Gymnasium herausgab und von den bayerischen Schülerredakteuren zu ihrem Landesvorsitzenden gewählt wurde. Unser Verband hieß „Presse der Jugend“ und durfte – nichts. Wir waren nämlich alle – auch die Abiturienten unter uns, die schon manche „Ehrenrunde“ gedreht hatten – minderjährig. Volljährig wurde man damals erst mit 21, und so waren wir ausnahmslos noch nicht geschäftsfähig. Das war den Schuldirektoren und dem bayerischen Kultusministerium durchaus Recht: Wir durften noch keine Druckaufträge erteilen, für unsere Seminare und Vollversammlungen keine Räume buchen, keine Busse bestellen, für unsere Feste keine Band unter Vertrag nehmen – wir durften gar nichts, unsere Zeitungen waren nur eine „schulische Veranstaltung“, das Direktorat konnte nach Gutdünken geplante Aktivitäten erlauben oder verbieten. Und Texte zensieren. Kritische Beiträge gegen die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg oder die bayerische Schulpolitik fielen oft dem Rotstift zum Opfer. Wir fanden das undemokratisch und opponierten dagegen

Zum Glück gab es erwachsene Verbündete. Ernst Müller-Meiningen jr. zum Beispiel, den großen kämpferischen Liberalen in der Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“. Und Münchner Autoren und Filmemacher. Der wichtigste von allen aber war ein Volkshochschuldirektor, der demokratische Rechte in seiner Zeit in den USA kennen und lieben gelernt hatte und meinte, dass man sie schon in der Jugend praktizieren muss, um sie später schätzen und verteidigen zu können: Dr. Hans Lamm

Schneller mündig werden

Hans Lamm lernte ich kennen als kleinen, meist risikofreudig durch die Stadt radelnden Herrn mit randloser Brille, der in der Münchner Volkshochschule in der Rheinberger Straße 3 schaltete und waltete, aber nur selten dauerhaft präsent war. Das schien ja ein interessanter und vielseitiger Job zu sein, der viele Nebentätigkeiten erlaubte, beispielsweise Artikel in verschiedensten Zeitungen – und Hilfen für die bayerische Schülerpresse. Lamm gründete gemeinsam mit einigen Publizisten, Pädagogen und oppositionellen Landtagsabgeordneten den Verein „Freundeskreis der Presse der Jugend“, der keine andere Aufgabe hatte, als alle Beschlüsse, die wir minderjährigen Grünschnäbel gefasst hatten, nochmals zu fassen, diesmal aber rechtsgültig mit den Stimmen erwachsener Menschen – und schon konnten Druckaufträge erteilt, Räume gebucht, Busse bestellt und Bands unter Vertrag genommen werden

Natürlich unterstützte uns der Freundeskreis auch beim Kampf gegen die Zensur der bayerischen Schülerzeitungen, Dr. Lamm schrieb Protestbriefe und nahm an Podiumsdiskussionen teil, doch er wollte nicht warten, bis all unsere Forderungen durchgesetzt werden könnten – und so verhalf er uns mit seinem listigen Pragmatismus sofort zur Mündigkeit – unsere Beschlüsse hatten Gewicht Dank ihrer Bestätigung durch den Freundeskreis, die nur noch eine Formsache war. Weil die Alten nur beschließen sollten, was die Jungen schon beschlossen hatten, erübrigte sich jede Diskussion – und das kam einem wichtigen Wesenszug von Dr. Lamm entgegen: Er hasste jede Zeitvergeudung durch Diskussionsrituale. Wenn eine Aussprache drohte, sich in die Länge zu ziehen, fuhr er energisch dazwischen und rief am liebsten „Quitsch! Quatsch! Quotsch!“ Da war allen Beteiligten klar, dass man schnell zum Ende kommen sollte

Da wir Schülerredakteure Dank unseres Schutzpatrons Dr. Hans Lamm in der Lage waren, landesweite Konferenzen abzuhalten und Resolutionen zu drucken, wurden wir plötzlich auch vom Kultusministerium ernstgenommen und zu einem „Verbandsgespräch“ eingeladen. Weil statt des angekündigten Staatssekretärs nur der Ministerialdirigent bereit stand, uns zu empfangen, war ich als düpierter Landesvorsitzender erst einmal sauer, aber Dr. Lamm zupfte mich am Ärmel und zog mich zur Seite und flüsterte mir dann ins Ohr: „Das ist ja toll. Das ist ein alter Nazi. Der kann uns keinen Wunsch abschlagen!“ Am Ende des Gesprächs war zwar die Zensur der bayerischen Schülerpresse noch nicht abgeschafft, aber wir bekamen Staatszuschüsse für unsere Landeskonferenzen… So viel Pragmatismus war mir zwar ein wenig unheimlich, gefreut haben wir uns aber trotzdem

Der Schutzpatron wird Präsident

Lamm war 1945 aus den USA zurückgekehrt, hatte als Dolmetscher an den Nürnberger Prozessen und am Aufbau einer demokratischen Publizistik und Erwachsenenbildung mitgewirkt, zählte für  uns Schüler der 60er Jahre also zu den Personen, die uns die Demokratie gebracht hatten und für die es nur konsequent war, demokratischen Bestrebungen als Schutzpatron zur Seite zu stehen. Erst als er 1970 Präsident der Kultusgemeinde wurde, rückte in den Vordergrund, welch grauenhaftem Schicksal er durch seine Flucht 1938 ins Exil entkommen war. Nun nahm die Öffentlichkeit ihn nicht mehr als scharfzüngigen Debattenredner, rastlosen Publizisten, respektlosen Verfasser scharfer Leserbriefe und listigen Pragmatiker wahr, sondern als Repräsentanten des Judentums in der früheren Hauptstadt der Bewegung – aber weil er schon so viele Bündnisse eingegangen, so viele Freundschaften geschlossen und so viele Konflikte durchgestanden hatte, konnte er die Sprachlosigkeit und Befangenheit zwischen den Opfern und der Mehrheitsbevölkerung im Land der Täter leichter als andere überwinden und schneller zur Sache kommen

Freilich musste er auch diplomatischer werden. Dass er Mitglied der SPD war, hängte er nun nicht mehr an die große Glocke. Aber als ich die alte Münchner SPD-Zeitung „Münchner Post“,  deren Haus am Altheimer Eck schon beim Hitlerputsch von der SA verwüstet worden war und die nach der Machtergreifung 1933 sofort verboten wurde,  1970 wieder aufleben ließ, wenn auch nur als monatlich erscheinende Boulevardzeitung, stand er mir doch sofort mit Rat und Tat zur Seite. Es freute ihn, dass das Verbot der Nazis nicht das letzte Wort geblieben war

Sein schönstes Geschenk war das zu Münchens 800-Jahr-Feier 1958 erschienene Gedenkbuch von Juden in München. 1982 erschien es unter dem Titel „Vergangene Tage“ nochmals in einer erweiterten Auflage. Schon das Umschlagfoto ist unvergesslich: Im Vordergrund die große Synagoge, dahinter die Frauentürme. So hat das Judentum das Stadtbild geprägt, so war es integraler Bestandteil der Münchner Stadtgesellschaft – es war unerträglich, dass die durch Vertreibung und Deportation und Ermordung erfolgte Zerstörung jüdisches Leben und die Beseitigung der Synagoge durch Führerbefehl das letzte Wort der Münchner Stadtgeschichte sein sollte. Jüdisches Leben – das konnte doch nicht nur in „vergangenen Tagen“ stattfinden! Aber wie könnte ein Neuanfang bewerkstelligt werden? Die Antwort kam erst von Lamms Nachfolgerin, der 1985 gewählten Präsidentin Charlotte Knobloch

Zum Glück konnte ich mich in den 80er Jahren bei Dr. Lamm noch für sein Engagement revanchieren. Er war Mieter in einem Altbau der Emil-Riedel-Straße, die Wohnung prall gefüllt mit zeitgeschichtlicher und englischer Literatur, deutscher Belletristik sowie Judaica und Bavarica – ein literarischer Kosmos. Die neuen Eigentümer wollten die alten Mieter vertreiben, das alte Lied. Aber Lamm verhielt sich als politischer Mensch, lud alle Bewohner in seine Wohnzimmer-Bibliothek zur Mieterversammlung und beauftragte mich als Mieteranwalt. Die berufstätigen Ehepaare waren sofort dabei, nur zwei Witwen waren nicht zu einem Nervenkrieg mit der Anwaltskanzlei der Eigentümer aufgelegt. Dr. Lamm hat sie mit einem unwirschen „Quitsch! Quatsch! Quotsch!“ zur Ordnung gerufen – und die Möchtegern-Mietervertreiber verloren alle Prozesse

Eine Frau an der Spitze

1985 wurde Charlotte Knobloch zu Hans Lamms Nachfolgerin gewählt. Diesmal war die Entwicklung meiner persönlichen Beziehung umgekehrt: Ich lernte Charlotte Knobloch zunächst als Repräsentantin des Münchner Judentums kennen, daraus ergab sich eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, die schließlich – das darf ich wohl so sagen – in eine persönliche Freundschaft mündete

Schon ihre Wahl war eine Sensation: Eine Frau an der Spitze der Kultusgemeinde! Heute – nach 30 Jahren Gleichstellungspolitik – kann man kaum noch ermessen, als wie revolutionär das damals empfunden wurde. Wenn die Repräsentanten der Religionsgemeinschaften in München gemeinsam auftraten – und das taten sie zum Glück recht häufig – war sie gefühlte Ewigkeiten die einzige Frau im Kreis der Würdenträger. Erst später kamen für die Protestanten Regionalbischöfin Susanne Breit-Kessler oder Stadtdekanin Barbara Kittelberger dazu – der Rest war Männersache, und bleibt das voraussichtlich noch sehr lange (wenn es nicht bald sogar ein „roll back“ gibt – abwarten!). Charlotte Knobloch ist heute die einzige Persönlichkeit dieses Kreises, die schon 1985 dabei war – und dabei können sich die Amtszeiten katholischer Kardinäle durchaus auch sehen lassen. Doch nicht nur die Damenwahl und die Länge der Amtszeit ragen heraus – es sind vor allem die Erfolge ihres Wirkens, die Charlotte Knobloch zu einem Glücksfall für ihre Gemeinde und für ihre Heimatstadt machten

Dabei fingen unsere Begegnungen durchaus etwas spartanisch an. Da war jedes Jahr das Gedenken an die Reichspogromnacht – am Gedenkstein der alten Synagoge, auf der kleinen Wiese, meistens in bitterer Kälte, häufig im Nieselregen, manchmal im ersten Schneematsch – und sehr, sehr oft eine sehr, sehr kleine Teilnehmerzahl – manche Medien, die heute den Gralshüter der Gedenkkultur spielen, berichteten kein einziges Wort. Aber Charlotte Knobloch ließ sich nicht beirren – und erinnerte an ihr eigenes Erleben dieser Nacht, an die ersten Opfer des Antisemitismus, denen so unsagbar viele folgten, an den Terror des Unrechtssystems, an das Wegsehen der Bevölkerung und auch an aktuelle Vorkommnisse, die schmerzhaft deutlich machten, dass es da keinen Schlussstrich geben kann, sondern nur ein entschlossenes „Nie wieder“. Das war ergreifend, war richtig und bitter notwendig – aber diese Umstände konnten doch nicht das letzte Wort der Stadt zu ihrer Geschichte sein

Wiederholt habe ich bei diesem Gedenken deutlich gemacht, was noch alles fehlt in München, damit die Juden der Stadt wirklich spüren können, dass nationalsozialistisches Unrecht nicht mehr nachwirkt und sie eine Zukunft in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung haben – aber eine Vision, wo und wie das geschehen könne, hatte ich nicht. Bis eines Tages Charlotte Knobloch in meinem Amtszimmer erschien und forderte, ein Jüdisches Zentrum am leeren St. Jakobsplatz zu schaffen, mit Synagoge und Gemeindezentrum und Schule und Kinderbetreuung. Mir war klar, wie viele konkurrierende Interessen es für diesen Platz gab, angefangen beim Stadtmuseum, wie viele Hindernisse, angefangen beim Tiefbunker, wie viele Schwierigkeiten, von der Finanzierung bis zu den Sicherheitsfragen, wie viele Verfahrensschritte von der Beseitigung des Bunkers bis zum Architektenwettbewerb und dem neuen Bebauungsplan – sodass das Projekt auf keinen Fall zerredet, von Bedenkenträgern ins Abseits getragen werden dürfe. Ich sagte ihr zu, das Projekt zur Chefsache zu machen – und weil zum Glück Kommunalwahlen ins Haus standen, nutzte ich eine Auftaktveranstaltung der SPD, um dieses persönliche Anliegen öffentlich zu präsentieren. Damit gab es kein Zurück mehr, und Widersacher hätten ihren Hut in den Ring werfen müssen, was sie nicht taten. Das war der Beginn einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit und – wie es bei „Casablanca“ heißt – einer wunderbaren Freundschaft

München – Charlottenburg

Es dauerte nur wenige Jahre, bis andere Begehrlichkeiten zurückgewiesen waren, für den Bunker ein neuer Standort gefunden wurde, die Nachbarn beruhigt werden konnten, durch die Verwertung des alten Synagogengrundstücks eine Anschubfinanzierung ermöglicht wurde, das städtische Jüdische Museum ins Programm mit aufgenommen wurde und ein Architektenwettbewerb bewies, dass das gesamte Raumprogramm sehr wohl auf dem St. Jakobsplatz untergebracht werden konnte. Dann ging es Schlag auf Schlag: Am 9. November 2003 wurde der Grundstein gelegt, am 9. November 2003 wurde die neue Synagoge festlich eingeweiht – auf den Tag genau 68 Jahre, nachdem Charlotte Knobloch als Kind den Schrecken der Reichsprogrammnacht miterleben musste

Wie hat sich seitdem die Münchner Welt geändert! Das Gedenken findet nicht mehr im Regen statt, sondern im Alten Rathaussaal, in dem einst Joseph Goebbels bei einer Feier der Alten Kämpfer des Hitlerputsches die Anhänger der Nazibewegung zum Pogrom aufgehetzt hatte. Ich empfinde dies wie Charlotte Knobloch nicht als Nachlässigkeit gegenüber einem historisch kontaminierten Raum, sondern ganz im Gegenteil als Triumph der Opfer über die Täter. Wenn die Kirchen Deutschland einen ökonomischen Kirchentag feiern, findet der Empfang zur Eröffnung im Jüdischen Gemeindezentrum statt. Wer ins Stadtmuseum geht, um Münchens Geschichte zu studieren, sieht gleichzeitig die Zukunft des Münchner Judentums – im Herzen der Stadt. Auch wenn zeitgenössische Architektur immer auf Widersacher stößt, bekenne ich mich gerne als Fan der Architektur von Rena Wandel-Hoefer und ihrem Team: Der Sockel erinnert an die Klagemauer in Jerusalem, und die transparente Dachkonstruktion darüber an die „Zelte Jakobs“ – ein bewegender Sakralbau

Auch ein krankes Hirn kann manchmal erkennen, was die Stunde geschlagen hat: Südbayerns Neonazis wollten die Grundsteinlegung mit einem Terroranschlag vereiteln, die Polizei stellte 14 Kilogramm Sprengstoff sicher. Mit ihrer Bereitschaft, einen vielfachen Mord zu begehen,  machten die Nazis, an denen eigentlich nichts „neu“ ist, überdeutlich, wie ergeben sie dem Hitler-Regime sind und wie elementar sie durch den Neubau des Jüdischen Zentrums getroffen werden

Max Mannheimer, der große alte Münchner Jude, der auch mit 95 Jahren noch Schulklassen über deutsche Verbrechen aufklärt und ihnen die Hand zur Versöhnung reicht, hat als erster gesagt, dass man das Jüdische Zentrum auf dem St. Jakobsplatz „Charlottenburg“ nennen sollte. Das ist mehr als ein Wortspiel. Das ist eine Hommage an eine Frau, die weitgehend auf sich allein gestellt nach bittersten Erfahrungen die Versöhnung mit ihrer Heimatstadt und den dortigen Menschen wollte, unermüdlich alle Hürden aus dem Weg räumte, eine kühne Vision entwickelte und zielstrebig mit langem Atem daran arbeitete, sie zu verwirklichen – und damit sogar die eigenen Erwartungen  übertreffen konnte

Während Menschen in vielen Teilen der Welt vergeblich davon träumen, Toleranz zwischen den Religionen erleben zu dürfen, stellt sich in München die Frage, ob „Toleranz“ das Ziel richtig beschreibt: „Tolerieren“ müssen wir auch dämliche Ansichten, abwegige Meinungen und anderen Geschmack. In Wahrheit geht es um viel mehr: Nicht „tolerieren“, sondern respektieren, ernst nehmen, kennen und verstehen lernen, zum Meinungsaustausch und Zusammenwirken einladen, einbeziehen, mitbestimmen lassen, Unterschiede gelten lassen und Gemeinsamkeiten erkennen. In diesem Sinne haben Hans Lamm und Charlotte Knobloch das Verhältnis von Juden und nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft in den letzten 45 Jahren gestaltet. München kann und muss dankbar dafür sein. Und ist es auch.

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